Interview mit Freerk Huisken (4/05)

Der wohlerzogene Protest

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot von Studiengebühren aufgehoben. KONKRET sprach mit dem Bremer Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken über den Selektionsauftrag des Bildungswesens

KONKRET: Herr Huisken, laut Pisa-Studie hängen in keinem Industrieland der Welt die Bildungschancen so stark vom Einkommen der Eltern ab wie in Deutschland. Wie ist das zu erklären?

Huisken: Zunächst einmal: Jedem "Industrieland" geht es darum, den gesamten Nachwuchs der Nation per Bildungswesen für die Einkommenshierarchie der Klassengesellschaft vorzusortieren. In jedem "Industrieland" wird so dafür gesorgt, daß für die Mehrheit des Nachwuchses an den Hochschulen kein Platz ist. Und es bleibt in keinem "Industrieland" aus, daß per schulischem Leistungsvergleich die Leistungsdefizite von Kindern aus den sogenannten einkommensschwächeren Schichten - mehr oder weniger - erhalten oder gar verstärkt werden. Da ist das deutsche Bildungswesen keine Ausnahme. Die hiesige Klassenschule erfüllt ihren Selektionsauftrag nur mit bemerkenswerter Konsequenz: Kaum ein anderes Schulwesen sortiert die nationale Jugend so früh (nach 4-6 Schuljahren), so radikal (ca. 70 Prozent werden von höherer Bildung ausgeschlossen) und so irreversibel (die vielgepriesene "Durchlässigkeit" funktioniert nur von oben nach unten) wie das deutsche. Und dabei macht es gnadenlos ernst mit der Chancengleichheit: Alle Schüler werden rücksichtslos gegenüber allen individuellen oder klassenspezifischen Differenzen, die sie in die Schule mitbringen, gleich behandelt. Kein Wunder, daß dann die bereits elaboriert sozialisierten Kinder der reicheren Familien, die sich zudem zusätzliche private Erziehungsanstrengungen leisten können, mehrheitlich die Sieger im Schulvergleich stellen.

Auf diese Weise schafft das hiesige Schulwesen nicht nur die gewünschte Auslese für die Klassengesellschaft, sondern reproduziert dabei per chancengleichem Leistungstest die Klassenlage der Eltern. Bildungspolitiker aller Parteien nehmen diesen vom ersten Schuljahr an eingebauten und seit Jahrzehnten bekannten "sozialen Numerus clausus" in Kauf, weil beziehungsweise solange sie mit dem Output des Bildungswesens zufrieden sind. Ihre Tränen über die "soziale Ungerechtigkeit" ihres eigenen Werks sind Krokodilstränen.

KONKRET: Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot von Studiengebühren aufgehoben. Gebühren von 500 bis 2.500 Euro pro Semester sind im Gespräch. Welche Folgen wird das haben, und was bezwecken die Politiker eigentlich damit?

Huisken: Die Absicht liegt auf der Hand. Es geht in erster Linie wirklich nur um die Staatsfinanzen. In die (Hochschul-)Etats soll auf diese Weise mehr Geld fließen. Den Studierenden wird damit eine neue Kalkulation aufgemacht. Wenn zu den Kosten, die ohnehin für jedes Studium aufgebracht werden müssen, zusätzlich Gebühren anfallen, müssen sich Studierende und ihre Familien die Frage stellen, ob sie sich so ein Studium dann überhaupt noch leisten können. Keine Frage, welche der Studierenden das besonders hart trifft! Noch ein Beleg für die Krokodilstränen.

Überdies läßt sich ein differenziertes und gestaffeltes Gebührensystem auch als Steuerungsinstrument einsetzen. Und das soll es auch. So einiges ist da bereits angedacht: Da sollen dann den Studenten Beine gemacht werden, indem ein kurzes Studium mit Gebührennachlässen belohnt wird. Der Effekt: Die "Durchlaufgeschwindigkeit" erhöht sich dadurch, die Kosten sinken und die akademische Arbeitskraft steht dem Markt früher, länger und billiger als Angebot zur Verfügung. Ebenso sollen ein gutes Examen oder die Wahl eines besonders auf dem Markt nachgefragten Ausbildungsgangs honoriert werden. Auf diese Weise stacheln die Gebühren eine längst übliche Berechnung weiter an: Das Studium muß brauchbar sein für diejenigen, die einen anstellen; der Finanzaufwand lohnt sich nur, wenn die Karriere folgt. Das heißt: In ihren Kopf lassen sie nur noch rein, was Staat und Kapital als Qualifikation nachfragen.

Es soll noch auf eine weitere Wirkung verwiesen werden: Wo Studiengebühren schwer oder nur durch zusätzliche Jobs aufzubringen sind, die dann gerade die angestrebte Effektivierung des Studiums wieder beeinträchtigen, da kommt der Studentenkredit ins Spiel. Prompt wird das Studium vom Finanzkapital als neues Geschäftsfeld entdeckt. Wenn sich dem jüngst vorgestellten Vorhaben der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau demnächst private Banken anschließen, dann kann aus dem Darlehen für zirka zwei Millionen Studenten - 650 Euro monatlich will die KfW ab Herbst 2005 zu "marktüblichen" Zinsen verleihen - ein hübsches Geschäftchen werden. Da jedoch Banken wissen, daß Studierende in der Regel über keine geldwerten Sicherheiten verfügen, da mit dem Studium nicht der Studienabschluß und mit diesem nicht der einträgliche Job gesichert ist, wird noch schwer gerechnet, ob sich die Sache auch lohnt. Auf jeden Fall hat das private Bankgewerbe beim Staat schon einmal um die Absicherung ihres "Ausfallrisikos" nachgesucht. Nach der "Riester-Rente" könnte dann ein "Bulmahn-Darlehen" dem Finanzgewerbe viel Freude bereiten.

KONKRET: Rechnen Sie damit, daß die Zahl der Studienanfänger drastisch zurückgehen wird?

Huisken:Eines ist gewiß: Ohne Studium landet ein Ausbildungsabsolvent heute gleich auf jenen Märkten, auf denen Hartz I-IV das Arbeitsleben bestimmen. Mit Studium darf es der Akademiker wenigstens auf den für ihn reservierten Märkten versuchen. Wer also heute beschließt, daß es "meinem Kind einmal besser gehen soll", wer aus der eigenen kapitalistisch verhagelten Lebensplanung den Schluß zieht, sein Nachwuchs müsse auf Biegen und Brechen zu den Siegern in der Ausbildungskonkurrenz gehören, der muß ihn studieren lassen. Die Familienplanung sieht dann entsprechend aus: sparen und verzichten für die Ausbildungsfinanzierung. Da das nur begrenzt geht, finden sich hier die geborenen Opfer für Schuldenfallen aller Art.

KONKRET: Wenn es an den Unis mal Proteste gibt, sind sie häufig sehr albern, und jeder weiß, daß sie nach kurzer Zeit im Sande verlaufen. Wie kommt das, wo doch für etliche Studenten ziemlich viel auf dem Spiel steht?

Huisken: Der studentische Protest ist nicht albern, sondern legt in der Regel - sowohl hier als auch im Ausland - Zeugnis von der selbstbewußt-kritischen Wohlerzogenheit der heutigen Studentengeneration ab. Wenn die Protestierenden bei der Bildungspolitik erstens mit dem Argument vorstellig werden, daß die Wirkungen der Gebühren hohe nationale Bildungsanliegen gefährden würden ("Das Volk der Dichter und Denker trägt seine Bildung zum Henker"), wenn sie zweitens dem Staat vorrechnen, sinkende Studentenzahlen lägen nicht im Interesse deutscher Standortpolitik, wenn sie sich ihm drittens als zukünftige Elite andienen, auf die er doch nicht verzichten könne, und wenn sie schließlich viertens ihre Forderung nach einem Verbot der Studiengebühren ausgerechnet an jene Adresse richten, die das Verbot gerade aufgehoben hat, dann sind aus protestierenden Studenten eben Bettelstudenten geworden, die sich mit ihrem Protest längst nationalen Kriterien fügen. Kein Wunder, daß so ein Protest beendet ist, wenn der Adressat ihrer Forderungen den Studierenden mitteilt, sie hätten zwar gute, eines mündigen Bürgers würdige Argumente vorgetragen, doch träfen sie eben nicht seine, des Staates, aktuelle Anliegen.

KONKRET: Was halten Sie von der Parole "Bildung ist keine Ware", mit der einige Demonstranten auf die Straße gehen?

Huisken: Natürlich steht mit den Gebühren vor dem Studium die Entrichtung eines Preises. Mit Ware hat das soviel zu tun, daß, wie in der übrigen Warenwelt, die Verfügung über Geld entscheidet, ob und wieviel sich jemand von den überreichlich produzierten Gebrauchsgegenständen aneignen kann. Alles, was als Ware mit Preis auf den Markt kommt, will Geld sehen, sonst nichts. Ohne Geld geht die Aneignung nicht, mag das Bedürfnis noch so groß oder gut begründet sein. So jetzt auch im Studium: Ohne Gebühren geht das Studium nicht mehr. Allerdings wird für Geld schon eine besondere Ware erworben. Sie stellt, genau besehen, das eingekaufte Recht dar, sich selbst unter sorgfältiger Beachtung von Prüfungs- und Studienordnungen, von Steuerungszwängen und Praxisdruck im Studium als Ware zurechtzumachen. Und die, sie heißt dann Berufsqualifikation, will wiederum Geld sehen. Ob diese Ware etwas einbringt und wenn ja, wieviel, wird dann - kapitalistisch sachgerecht - ebenso in der Konkurrenz auf dem Markt entschieden wie die Frage, wie lange so eine akademische Qualifikation überhaupt kapitalistisch etwas wert ist.

Doch habe ich den Eindruck, daß Studenten diese Kritik an der Ware gar nicht meinen. Wenn es ihnen kritikwürdig erschiene, daß die Menschen über den Warencharakter der Dinge von den Gegenständen ihres Bedarfs ausgeschlossen werden, dann würden sie sich nicht nur darüber beschweren, daß Bildung zur Ware wird. Doch davon ist kaum etwas zu hören. Ihnen erscheint es vielmehr unangemessen, daß so etwas Hohes, Geistiges, Wertvolles wie Bildung unter so profane materielle Kriterien subsumiert wird. Es erscheint ihrer eigenen Stellung als angehende geistige Elite unwürdig zu sein, daß die Partizipation am akademischen Geist und die Eintrittskarte für die höheren Gesellschaftsränge jetzt in Heller und Pfennig abgerechnet werden sollen. Das kratzt an ihrer Lebenslüge von der gebildeten, verantwortungsbewußten und für Führungsaufgaben prädestinierten Persönlichkeit, als die sie sich imaginieren.

Es darf deswegen nicht verwundern, daß sich Studierende kaum darüber erregen, wofür sie eigentlich Gebühren entrichten sollen; was ihnen da eigentlich an wissenschaftlichen Glanzleistungen im Studium geboten wird; welche Leistungen ihnen später in den Jobs der Elite abgefordert werden.

Aber vielleicht verhält es sich sowieso umgekehrt: Muß sich nicht derjenige, der sich als Lehrer oder Sozialarbeiter, als Betriebswirt oder Jurist, als Journalist oder Pfarrer, als Ingenieur oder Arzt, als Politiker oder General später um das Funktionieren des kapitalistischen Ladens verdient machen, sein Berufsleben in den Dienst des nationalen Standorts stellen will, dann auch für Studiengebühren aussprechen? - Ein Drittel der Studierenden tut das übrigens schon.

Interview: Stefan Frank