Freerk Huisken, Bremen 10/98

(publizierter Tagungsbeitrag)

"Jugendgewalt" - Über Armut, Nationalismus und den Kult des Selbstbewußtsein

1. Polizeistandpunkt als Wissenschaft

a. Ausgangspunkt: "Jugendgewalt", nichts als Abweichung von Recht und Ordnung

Wenn heute von "Jugendgewalt" oder gar "Jugendkriminalität" die Rede ist, wird weniger auf den Sachverhalt gedeutet, daß in der Tat bei Kindern und Jugendlichen neben verbalen Roheiten das Treten und Schlagen, das Erpressen und Entwenden vermehrt an der Tagesordnung ist. Mit dem Terminus "Jugendgewalt" wird nicht eine erst zu erklärende Sache benannt, vielmehr wird mit der Bezeichnung in der Regel gleich eine komplette theoretische Deutung vorgestellt und zwar eine unzutreffende. Besonders die Unbedenklichkeit, mit der der Begriff "Jugendgewalt" synonym mit "Jugendkriminalität" gebraucht wird, stellt klar, daß an dem Handeln von Jugendlichen nur das Unerlaubte, das Unerwünschte, das gesetzlich Verbotene festgehalten wird. Es geht folglich nicht um die Erklärung der Motive von Kindern und Jugendlichen beim Einsatz von Gewaltmitteln. Diese haben vielmehr bereits eine Zuordnung erfahren: Die Sache interessiert nur hinsichtlich ihrer Abweichung von Recht und Ordnung. Diese Betrachtungsweise ist in ihrem Ausgangspunkt nichts als eine Verbeugung vor außerwissenschaftlichen, nämlich vor juristischen Kriterien. Sie interessiert sich für das ärgerliche Treiben dieser Jugendlichen nur aus der Perspektive des durchgesetzten staatlichen Gewaltmonopols, entdeckt an ihm einen Verstoß dagegen und erklärt diesen Verstoß für das Eigentliche der Sache.

Für eine Betrachtung aus der Perspektive des Rechtsstaats wäre dies nun in der Tat die einzig interessierende Feststellung: Daß in der Gesellschaft Privatpersonen Gewalt ausüben, hält er in jedem Fall für einen Anschlag auf sein Gewaltmonopol, das es strikt zu unterbinden gilt. Und wenn gar Kinder gewalttätig werden, die noch nicht so ohne Weiteres unter das Strafrecht fallen, ist er sich sicher, daß all diejenigen versagt haben, die dem Nachwuchs vor allem eines beizubringen haben: Respekt vor der demokratischen Staatsgewalt.

Wissenschaft hat allerdings eine andere Aufgabe: Sie hat zumindest erst einmal die Sache, wie sie ist, zur Kenntnis zu nehmen, statt sich allein für das zu interessieren, was sie nicht ist. Aber genau daran hält die durchgesetzte sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise fest. Mit "Jugendgewalt" wird allein die Abwesenheit jenes Betragens gekennzeichnet, das sich für die Jugend gehört: Diese Jugend verstößt gegen Recht und Ordnung. Doch was weiß man eigentlich, wenn nur festgehalten wird, daß die Jugend in Teilen nicht so ist, wie sie sich die Garanten von Recht und Ordnung vorstellen? Nichts weiß man über das Treiben der Jugendlichen und ihre Gründe. Ebenso wie man - um ein anderes Beispiel zu nehmen - über den Faschismus nichts weiß, wenn man ihm vorhält, er sei keine Demokratie. Dafür weiß man einiges über den Betrachter, der nur "Jugendgewalt" und "Jugendkriminalität" entdeckt. Man weiß, daß er so sehr Parteigänger der herrschenden oder der von ihm erwünschten Ordnungsvorstellungen ist, daß er die Sache, die es zu klären gilt, nur durch eine polizeiliche Brille wahrnimmt.

Nehmen wir einige Beispiele: Wenn Hooligans über Anhänger eines konkurrierenden Fußballvereins herfallen, wenn Skins Ausländer jagen oder Schüler scheinbar grundlos Mitschüler verprügeln, dann haben wir lauter Sachverhalte, die sich zwar alle durch den Einsatz von Gewalt auszeichnen, die aber auf den ersten Blick erkennbar unterschiedliche Motive, Opfer und Verlaufsformen aufweisen. Wer ihnen mit der juristischen Abstraktion "Jugendgewalt" zu Leibe rückt, der stellt sich gleichgültig gegenüber allen Anliegen, die die Kids verfolgen: Skins verprügeln Ausländer, was ein klarer Fall von Nationalismus ist! Und was interessiert den Sozialwissenschaftler: Hier liegt Gewalt vor, deren Ausübung ist Privatpersonen, Jugendlichen zumal, untersagt. Schüler brüsten sich damit, daß sie jeden Mitschüler zusammenschlagen, der ihnen nicht zu Willen ist. Ein klarer Fall von radikalisiertem Geltungsstreben. Und wieder der Sozialwissenschaftler: Gewaltandrohung - verboten. Usw.

Diese Sorte Wissenschaft gibt sich damit in ihrem Ausgangspunkt als Polizeiwissenschaft zu erkennen. Folglich ist sie im Prinzip mit ihrer theoretischen Arbeit fertig, bevor sie recht eigentlich mit ihr angefangen hat. Diese Wissenschaft entfaltet dann auch nur noch ihr eigenes rechtsstaatliches Vorurteil über die Sache. Und es steht zu erwarten, daß die Schlußfolgerungen, die sie präsentiert, nur den Ordnungsstandpunkt bestätigen, der bereits bei der Kennzeichnung der Sache unterlegt ist: Die Jugend muß zur Ordnung gebracht werden!

b. Durchführung: Keine Gründe, nur Anlagen und Dispositionen

Betrachten wir eine Untersuchung von J.Mansel.1 Sie beginnt, genau wie beschrieben, mit der Auflistung von Gewalttätern. "Die Aktivitäten von jugendlichen Hooligans, Skinheads, Punks usw. (!)" 2, werden zusammengefaßt und in einen Topf geworfen, der dann das Etikett "Jugendgewalt" erhält. Diese Sorte Zusammenfassung mag in einem ersten Schritt noch gerechtfertigt sein, benennt sie doch, was die allgemeine Empörung auslöst, nämlich die Roheit des Treibens dieser Jugendlichen. In der Tat ist ihr Tun kritikabel. Jedoch nicht deswegen, weil es eine Ordnung stört, die selbst jede Menge Gewalt zu ihrer Etablierung und Erhaltung braucht - Polizei, Gefängnisse, Grenzschutz, Justizvollzug, Soldaten usw.- , vielmehr allein deswegen, weil die gewaltsame Durchsetzung eines Anliegens auf den ihm entgegenstehenden Willen und seine Urteile keine Rücksicht nimmt, sondern ihn bricht. Das ist die Kritik an Gewalt - und zwar an jeder Gewalt. Sich über sie zu empören, gleichgültig in welchem Gewande sie auftritt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Und mit der Empörung ist zugleich ein praktisches Interesse in die Welt gesetzt: So soll es im Verkehr der Menschen untereinander gerade nicht zugehen!3

Erst mit dem zweiten Schritt beginnt die eigentliche wissenschaftliche Arbeit: Sie beginnt mit der Ergründung der Ursachen dieses Treibens. Doch statt zu klären, was ein Skin, ein Hooligan, ein "cooler" Schüler usw. eigentlich ist, welche Gründe sie alle für ihr Tun haben, was von diesen Gründen zu halten ist, wo sie sie erlernt haben, wieso ihnen der Einsatz von Gewalt einleuchtet und wie die Ursachen jugendlicher Roheit zu bekämpfen sind, da interessiert sich der Polizeiwissenschaftler - seiner Logik konsequent folgend - erstens nur noch dafür, wie es kommt, daß Jugendliche ein unerlaubtes Durchsetzungsmittel, die Gewalt, anwenden und zweitens wie sie zu braven, gesetzestreuen, unauffälligen Bürgern gemacht werden können, wie also dem Gewaltmonopol des Staates - Recht und Ordnung - Genüge getan werden kann.

Im Folgenden sind ihm Skins, Hooligans, Junkies oder Schüler als theoretische Gegenstände völlig egal. Er untersucht nur noch "Gewalttäter". Genauer gesagt: Unbefugte jugendliche Gewalttäter, jugendliche Ordnungsstörer. Befugte Gewalttäter - junge Polizeibeamte, Grenzschützer usw. - fallen schon deswegen nicht in seinen Untersuchungsgegenstand, weil er als Wissenschaftler ja gerade den Standpunkt ihrer Auftraggeber eingenommen hat und von ihm aus auf die Jugendlichen blickt. Die ärgerlichen Taten der Kids schrumpfen bei ihm zusammen auf den Einsatz unerlaubter Gewalt. Daß es sich dabei um Mittel handelt, mit denen immer bestimmte Zwecke verfolgt werden, es folglich darum geht, diese zu ergründen und zu beurteilen, fällt unter den Tisch, weil bei ihm der Ordnungsstandpunkt schon ganz mit dem wissenschaftlichen verschmolzen ist. Übrigens würde J.Mansel nach diesem Muster wohl kaum eine andere Sorte von "Gewalttätern" - etwa Abschiebungsbeamte, Justizvollstreckungsbedienstete oder Soldaten - beurteilen. Deren Gewaltmitteleinsatz wird ganz selbstverständlich vom politischen Zweck her beurteilt und entweder kritisiert oder gutgeheißen. Doch beim unerlaubten Einsatz von Gewalt durch Jugendliche, da zählen die Zwecke, die Anliegen, die Motive einfach nicht. Die Kids sind für sie in dieser Betrachtung nur noch die Verkörperung von Unerlaubtem, von Ordnungsstörung.

Das ist recht fatal, weil jetzt Ursachen einer Sorte von Gewalt ergründet werden sollen, die gar keinen Inhalt hat, mit der keine Zwecke verfolgt werden und die keinem Anliegen dient. Das wissenschaftliche Interesses gilt ab sofort einem Konstrukt, einem Sachverhalt, den es nicht gibt, den der Wissenschaftler sich konstruiert hat: Gewalt ohne Zweck, leere, abstrakte Gewalt gibt es nicht. Immer werden mit Gewalt bestimmte Anliegen verfolgt, die in der Regel auf der Hand liegen: Ob es der Vater ist, der seinen Sohn schlägt, ob es der Räuber ist, der einen Passanten mit Gewalt um seine Barschaft bringt, der Polizist, der einem Einbrecher Handschellen anlegt, oder ob es ein Skin ist, der auf Türken einschlägt - nirgendwo gibt es einen Zweifel am Anliegen, das mittels Gewalt verfolgt wird. Doch die Jugendforschung trennt das Mittel vom Zweck und erfindet sich eine Gewalt, die keinem Anliegen dient.

Der dafür durchgesetzte Begriff lautet "Gewaltbereitschaft" bzw. "Gewaltdisposition". Der Begriff drückt aus, daß es für unerlaubtes Handeln überhaupt keine Gründe gibt, weil der Wissenschaftler sich dafür keine guten, überzeugenden Gründe vorstellen kann. Die Logik dieses Denkens ist verbreitet: Wer eine unerwünschte, z.B. faschistische Orientierung hat, der gilt als orientierungslos oder desorientiert. Weil die Orientierung nicht paßt, hat der Mensch gar keine! Wer mit der herrschenden Erziehung nicht einverstanden ist und dies auch zeigt, der ist mit Sicherheit unerzogen usw. Daß Jugendliche für ihr rohes Treiben jeweils ihre Gründe haben - richtige oder falsche -, das kann schlechterdings nicht sein. Warum? Weil das Handeln doch empörend und verboten ist. Wie bei der Erklärung von Faschismus: Wie war das nur möglich?, lautet die Frage, die zum Ausdruck bringen will, daß jede Erklärung, die für dieses Handeln Gründe findet, an der Sache vorbeigeht. Für solche Grausamkeiten - heißt ein verbreitetes Urteil - kann niemand politische Gründe haben. Die Wissenschaft hat sich damit den Menschen so zurechtgelegt, wie ihn die Politik gerne hätte: Der Mensch ist - quasi von Natur aus - mit seinem Verstande immer auf der Seite von herrschendem Recht und durchgesetzter oder angestrebter Ordnung. Bewußt verfolgt der Mensch, da ist sich diese Wissenschaft sicher, nur ordentliche Anliegen. Unordentliche können unmöglich das Resultat des sich seiner Tat bewußten Verstandes sein. Folglich können für unerwünschtes Handeln nur Fehlentwicklungen oder nicht hinreichend kontrollierte Anlagen bzw. Dispositionen verantwortlich sein.

Wer "Gewaltdispositionen" erforscht, sich also für das Treiben und die Motive der gewalttätigen Kids nicht interessiert, hat den Übergang in die Psychologie oder in die Sozialpsychologie vorbereitet; der hat sich dazu entschlossen den gewalttätigen Menschen zum Objekt von Anlagen oder Umständen zu deklarieren. Er ist dann ein Aggressivling, wenn die Gewaltdisposition der Anlage zugeordnet wird. Wenn dafür mehr die Umwelt verantwortlich sein soll, dann wird z.B. ein "Wertevakuum" entdeckt - schon wieder etwas, was es nicht gibt - und ein Versagen der Erziehung diagnostiziert. Fest steht: Dieses "abweichende Verhalten" - wie das soziologisch heißt - kann nicht dem Verstande entsprungen sein, soll also nicht das Resultat von willentlicher Zwecksetzung sein, der die brutalen Mittel bewußt zugeordnet werden. Auch diese Form von Ausschlußdenken kennt man aus anderen Zusammenhängen: Ist die Redeweise nicht jedermann geläufig, daß derjenige, der in Denken und Tun so ganz neben allem Bekannten und Gewohnten liegt, "nicht ganz sauber tickt". Und kennt man nicht die Analysen, die den Faschismus - und den Kommunismus gleich mit - nicht für eine Sorte von Politik halten, sondern für Verbrechen, deren Täter krank sein müssen?

Diese theoretische Tilgung des Willens von Menschen, nur weil deren Treiben mißfällt, hat Konsequenzen für die weitere Analyse. Alle Sachverhalte werden neu gedeutet: Wenn z.B. Schüler es "echt cool" finden, auf dem Schulhof einem x-beliebigen Mitschülern mit gezielten Fußtritten zu demonstrieren, wer hier der"king" ist, dann ist - laut dieser Jugendforschung - nicht das hier sehr bewußt geäußerte Bedürfnis am Werke, die Anerkennung durch die Umgebung zu erzwingen, sondern dann äußert sich die im Menschen angelegte Aggressivität (Anlage). Wenn ein Skinhead gegenüber Türken den Baseballschläger zückt, dann exekutiert er nicht etwa sehr bewußt sein rassistisches Urteil, daß Ausländer, die "uns die Arbeitsplätze wegnehmen", in Deutschland nichts zu suchen haben, sondern dann ist schon wieder dieselbe Aggressivität oder Disposition am Werke. Usw. Nie will der Jugendliche - dieser Auffassung zufolge - das, was er tut. Nie hat er dafür seine - natürlich falschen - Gründe. Immer ist er eigentlich nur Opfer seiner Triebe oder seiner Umwelt. Nicht den Geprügelten gilt folglich die Anteilnahme, sondern dem Täter. Geschädigt ist nicht das Opfer, sondern der Täter - und natürlich der schöne Rechtsstaat, dessen Ordnung so fürchterlich gelitten hat. Höhepunkt dieser psychologischen Betrachtung ist jene Umkehrung, derzufolge man den Schreien der Opfer nur den Hilfeschrei des Täters entnehmen soll! 4

Wie mit der Bestreitung von Zweckgerichtetheit der Gewalt und Willentlichkeit der jeweiligen Tat zugleich ihr bestimmter Gehalt ausgelöscht wird, läßt sich an J.Mansel wiederum gut zeigen. Er kommt auf den Einfall, Ansprüche von Jugendlichen an ihr Leben mit deren Urteilen über vorfindliche Realisierungsbedingungen abzugleichen. Dabei stellt er eine Diskrepanz zwischen "gestiegenen Ansprüchen Jugendlicher nach selbständigen und kreativen Tätigkeiten" 5 hinsichtlich ihres privaten und beruflichen Lebens und den "erschwerten Bedingungen, die Ansprüche zu realisieren" fest. Das macht er dann für seine abstrakte "Gewaltdisposition" verantwortlich, die zur Gewalttat werden kann, wenn er z.B. selbst Schläge im Elternhaus einstecken mußte. Den Befund will ich gar nicht bezweifeln. Da mag schon etwas dran sein, daß viele Jugendliche die Welt so sehen. Nur, wenn Jugendliche mitgekommen, daß beispielsweise die Urteile aus dem Sozialkundebuch über den Arbeitsmarkt mit seiner Wirklichkeit nicht zur Deckung bringen sind, dann hätten sie einen Grund, die Bücher zu kritisieren und die Marktwirtschaft zu "hinterfragen". Dann hatten sie einen sehr präzisen inhaltlichen Ärgern mit bestimmten Adressaten, aber keine inhaltlose Aggressivität oder leere Gewaltdisposition, geschweige denn einen Grund, Türken "aufzuklatschen" oder "60er zu vermöbeln". Denn es haben weder die Türken, noch die Anhänger von 1860 München etwas mit der erfahrenen Diskrepanz zu schaffen. Geradezu absurd wird es, wenn man diese Erklärung auf die von ihm selbst erwähnten rechtsradikalen "Gewalttäter" anwendet: Ein Skinhead, der mit "Ausländer raus, Deutschland den Deutschen" auf Türken losgeht, der macht das - dieser Analyse zufolge - nicht etwa deswegen, weil er ein radikaler Nationalist ist, sondern weil seine Ansprüche nach "selbständigen (!) und kreativen (!) Tätigkeiten" nicht aufgegangen sind!

c. Konsequenzen: Das Ideal des selbstbewußten Untertanen

Die Vorschläge zur Gewaltbekämpfung, die diese Sorte von Sozialwissenschaften vorlegt, folgen zwar nicht immer ihren eigenen Befunden. Dennoch sind sie äußerst folgerichtig: Denn sie setzen den bereits vor der Untersuchung feststehenden Standpunkt, daß "Jugendgewalt" eine Ordnungsstörung darstellt, in Konsequenzen um. So verweisen J.Mansel/K.Hurrelmann darauf, daß "nicht alle im Bereich der schulischen Interaktion als Gewalttaten identifizier- und definierbare Aktionen notwendig (!) Gegenstand des Strafrechts sein müssen und nur mit Mitteln des Strafrechts bekämpft werden können." 6 So eine Auskunft muß man erstens als Beleg dafür nehmen, daß hier Wissenschaft als Erwägung von Rechtsfragen betrieben wird. Nur deswegen kommt den Autoren der Rekurs auf das Strafrecht als - selbstverständlich nur ein und gar nicht einmal das wichtigste - "Mittel zur Bekämpfung" von "Jugendgewalt" auch so locker über die Lippen. Theoretisch gesehen lebt dieser Hinweis von einer Verwechslung: Wenn nämlich ein "Täter" eingesperrt wird, dann ist das "Delikt" mitsamt seinen Ursachen gerade nicht bekämpft. Es sei denn, man unterstellt, daß die Ursachen der Tat sowieso ausschließlich im "Täter" selbst liegen: als anlagen- oder als umweltbedingte Disposition. Wenn man das unterstellt, dann ist in der Tat jede Kritik eines Willens unmöglich. Dann muß man gleich die Disposition treffen. Wie trifft man die Disposition? Indem man den Willen bricht, den es dann nicht als die bewußte Äußerung eines verständigen Subjekts mit falschen Ansichten, sondern als Ausdruck von Innen- oder Außenlenkungen gibt: Strafe statt Überzeugungsarbeit!7 Nebenbei sei festgehalten, daß man dabei gegen "Gewalttäter" selbst zum Mittel der (staatlichen) Gewalt greift und damit den Tätern einmal mehr recht gibt: Wer über die effektivsten Gewaltmittel verfügt, der kann sich durchsetzen!, lautet dann deren neue Lehre.

Praktisch rächt sich der theoretische Fehler schnell, denn wo die Ursachen nicht aus der Welt geschafft sind, wirken sie bekanntlich weiter und bringen die nächsten Täter hervor. Die Fortsetzung lautet dann: Mehr einsperren, schneller und länger einsperren, Verschärfung des JStR usw. Aus einer korrekten theoretischen Analyse folgt allein, daß Ursachen bekämpft werden müssen, damit dem rohen Treiben ein Ende gemacht wird. Aus dem Rechtsstandpunkt folgt dagegen, daß Täter bestraft gehören und damit dem Recht Genüge getan wird. Und beides sollte man nicht gleichsetzen.

Nun aber zu Mansels weiteren Konsequenzen. Bliebe man in der Logik seines spezifischen Befundes, dann müßten eigentlich aus seiner Diskrepanztheorie folgende Schlüsse gezogen werden: Es muß alles dafür getan werden, damit die Jugendlichen ihre Ansprüche verwirklichen können. Die Schule muß ordentlich ausbilden und die Berufswelt Lehrstellen, Arbeitsplätze und ein vernünftiges Einkommen bereitstellen. Und schließlich brauchen die Erzieher selbst eine Erziehung, damit sie aufs Prügeln verzichten. Nichts davon ist bei Mansel zu lesen. Seine Schlußfolgerung lautet vielmehr: Es müssen "teilweise übersteigerte (!) Ansprüche und Erwartungen auf ein realistisches Maß zurückgeschraubt (!) werden". Jugendliche müssen erkennen, daß "alles was möglich erscheint, nicht immer tatsächlich möglich ist". Über das Erkennen "struktureller Barrieren (!)" können "vorprogrammierte Enttäuschungen bereits im Vorfeld verhindert werden".8 Festzuhalten ist, daß diese Konsequenzen nicht einmal zu Mansels Diskrepanz-Analyse selbst passen. Aus der Feststellung einer Diskrepanz zwischen Ansprüchen und ihrer Realisierung wird plötzlich etwas ganz anderes, nämlich eine Anspruchskritik. Für die braucht es aber den ganzen Vergleich mit den Verwirklichungsbedingungen nicht. Wer Ansprüche für überzogen hält, der sorgt sich doch nicht um fehlende Realisierungsmöglichkeiten, sondern kritisiert mit der "Wirklichkeit" die Ansprüche als unrealistisch - wie es Mansel im Anschluß an seine Diskrepanztheorie tut.

Dennoch paßt dieser Schluß zum wissenschaftlichen Konzept. In ihm entdecken wir den Ordnungsstandpunkt rein wieder, dem sich Mansel u.a. in ihrer Untersuchung von "Jugendgewalt" verschrieben haben. Mansels Schlußempfehlung könnte denn auch aus einer Kohl-, Schäuble- oder Stoiber-Rede stammen: "Die deutsche Jugend ist verwöhnt. Sie will viel zu viel. Erziehung zur Bescheidenheit ist angesagt, denn an den "strukturellen Barrieren" - dem Markt, den Standortproblemen, der Globalisierung - kommen wir alle nicht vorbei." Bei der Durchsetzung dieses Angriffs auf die "verwöhnte Jugend" ist dabei vor allem die Schule gefragt. Bei Mansel lesen wir: In der Schule muß den Schülern "die Möglichkeit gegeben werden, das was sie in der Schule erlernen, nicht mehr als oktroyiert zu verstehen (!), sondern als etwas, was sie selbst lernen wollen". Also: In der Schule muß mehr auf Werte geachtet werden. Zum Beispiel braucht die Jugend Pflichtgefühl. Genau das hat er nämlich angesprochen, wenn er empfiehlt, daß die Schüler den "Oktroy" als eigenen Entschluß begreifen, die Pflicht aus Neigung befolgen sollen. Das kennt man aus dem Konzept "Mut zur Erziehung" 9: Da jede Pflicht doch ohnehin immer nur zum Besten der Schüler verordnet wird, hat sie von ihnen aus innerem Antrieb freudig erfüllt zu werden! Erwünscht ist also demokratisches Pflichtbewußtsein: Der Polizist steht nicht eingriffsbereit hinter dem Bürger, sondern hat sich als Rechtsgefühl und Moral im Bürger selbst eingenistet.

Die Logik dieser Konsequenzen ist so brutal wie der Gegenstand, dem sich die Studie widmet: Wenn Gewaltbereitschaft der Jugend irgendwie mit einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität zu tun hat, dann hat die Erziehung die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sich Jugendliche gleich alle Ansprüche abschminken. Dann können sie an ihnen auch nicht scheitern. Am besten ist es, sie wollen immer nur das, was sie bekommen, dann können sie ihre Heimat auch dafür loben, daß sie immer bekommen, was sie wollen. Nie werden sie so bei Realisierung von Ansprüchen scheitern! Und falls sie dann immer noch gewalttätig werden, dann gibt es auch noch das Strafrecht. Ausgemalt wird hier das politische Ideal des Untertanen, und zwar des selbstbewußten, der zu allem, was mit ihm angestellt wird, ja sagt und sich dazu den Standpunkt leistet, daß dies angesichts der nicht zu korrigierenden Sachzwänge ("strukturelle Barrieren") letztlich schon in Ordnung geht.


2. Skins, Hooligans und coole Typen

Was hat es nun tatsächlich mit der sogenannten Jugendgewalt auf sich? Gehen wir einige Abteilungen dieser famosen Jugend durch.

a. Skinheads: Private Ausländerfeindlichkeit

Es mag statistisch zutreffen, daß sich Skinheads mehrheitlich aus den Reihen arbeitsloser Jugendlicher rekrutieren. Doch wird niemand aus Ärger darüber, daß er keine Lehrstelle bekommen hat oder arbeitslos gemacht worden ist, rechtsradikaler Ausländerfeind. Ein Ärger darüber - der hat übrigens wieder einen bestimmten Inhalt und ist keine leere Aggressivität - richtet sich nie einfach so gegen Ausländer. Wer wirklich den Frust über die sozialen Zustände gegen die Verursacher wenden will, dem fallen zunächst einmal inländische Fabrikbesitzer ein; und natürlich eine inländische Politik von Kohl bis Schröder ein, die ebenfalls sehr dafür ist, daß nur Arbeitsplätze und Lehrstellen eingerichtet werden, die sich wirtschaftlich lohnen. Wer dagegen auf Ausländer als Schuldige an nationaler Massenarbeitslosigkeit verfällt, den treibt etwas völlig anderes als der Protest gegen soziale Verelendung. Der interessiert sich für die Ursachen von Entlassungen und Armut nicht, sondern will nur seinen nationalistischen Standpunkt zu einem nationalen Problem kundtun. Nichts als das treibt ihn. Sonst fiele er nicht über Leute her, die in derselben oder in einer noch schlimmeren Lage stecken als er.

Wie kommt man zu diesen Standpunkt? Ganz einfach: So jemand hat aus dem Umstand, daß er zu einem Deutschen gemacht worden ist - übrigens ohne je gefragt worden zu sein -, den Schluß gezogen, es als Deutscher deswegen auch ziemlich gut getroffen zu haben. Mehr braucht es nicht für den Bürgernationalismus als die unerschütterliche Überzeugung: deutsch - im Prinzip - guttt! Wenn er diese Überzeugung beherzigt, dann fällt ihm automatisch bei allem, was bei ihm und in Deutschland nicht so läuft, wie er es vielleicht gern hätte, sofort ein, daß dies unmöglich an etwas Deutschem liegen kann, denn: deutsch guttt! Mit der Umkehrung dieses nationalistischen Urteils wird er sofort fündig: Also kann alles Ungute in Deutschland - dazu fällt ihm ein, was auch dem Innenminister einfällt: Kriminalität, Drogenszene, Arbeitslosigkeit usw. - auch nur von Ausländern und dem Ausland kommen. Fertig ist sein Befund!

Und wenn dieser Befund von der herrschenden Ausländerpolitik bestätigt wird, diese Ausländer abschiebt und sie nur noch in politisch begründeten Ausnahmefällen hereinläßt, dann weiß er sich mit seinem nationalistischen Befund politisch ins Recht gesetzt. Gerade aus der Übereinstimmung mit der aktuellen Ausländerpolitik der letzten Jahre leitet er dann auch seine Kritik an ihr ab. Er moniert eine angeblich fehlende Konsequenz im Programm "Ausländer raus!" Bis dahin unterscheidet er sich übrigens noch nicht von jedem deutschen Stammtisch oder Kaffeekränzchen.10 Erst wenn er aus seinem nationalistischen Standpunkt, den er als einen von höchster Stelle beglaubigten erfahren hat, ableitet, daß der Politik Dampf gemacht werden muß, dann zeigt er schon mal mit praktischen Demonstrationen, wie für ihn konsequente Ausländerpolitik aussieht. Der Einsatz des Baseballschlägers oder des Molotowcoktails sind ihm dafür passende Gewaltmittel, weil Ausländer eben nicht von selbst gehen. Daß es im Umgang mit Ausländern dringend des Einsatzes von Gewalt braucht, das entnimmt er im übrigen auch der demokratischen Ausländerpolitik.

Das ist die Erklärung des Skinheads. Was daraus folgt, liegt auf dem Tisch. Die Kritik des jugendlichen Glatzkopfs ist ohne die Kritik nationaler Ausländerpolitik und der nationalistischen Menschensortierung nach In- und Ausländern, die jeder Ausländerpolitik zugrunde liegt, nicht zu haben. Wer den Skin mit juristischen Instrumenten aus dem Verkehr zieht oder ihm mit sozialpädagogischen Konzepten wie etwa der "akzeptierenden Jugendarbeit" ein weniger auffälliges Verhalten nahelegt, der produziert unauffällige DVU-Wähler und läßt den "Sumpf", aus dem sich diese Variante von Nationalismus täglich neu speist, unberührt.

b. Hooligans: Radikalisierter Lokalpatriotismus

Schon der Fußballfan ist etwas anderes als der Freund eines gepflegten Fußballspiels. Schon er ist Anhänger eines Vereins, in der Regel des Vereins jener Stadt, in das ihn seine eigene Mobilität oder die seines Erzeugers verschlagen hat. Sie heißt dann Heimatstadt und geht ziemlich in Ordnung, weil es der Mensch auf Dauer schwer aushält, wenn auch noch die Umgebung jener Stätte, in der er seine Brötchen verdienen muß, das Allerletzte ist. Neben dem Fußballverein besorgen diese Affinität zwischen Mensch und Heimatstadt z.B. die Erinnerung an die dort verlebte Jugend, gleichgültig wie hart oder leicht sie war, daß er die Stadt wie seine Westentasche kennt, und der Umstand, daß er sich - was bleibt ihm auch anderes übrig - privat in ihr eingerichtet hat. Hier hat er Nachbarn - die er sich nicht ausgesucht hat; hier hat er einen Stammtisch - den er zum Ablassen des angesammelten Dampfes braucht; hier hat er Schulden, hier muß er Steuern zahlen, hier steht das für ihn zuständige Arbeitsamt usw.

Dafür, daß sein Beschluß, er will sich in "seiner Stadt" auf Biegen und Brechen wohl fühlen, aufgeht, hat nun auch sein Heimatverein nicht mit seinem Fußballspiel, sondern mit seinen Siegen beizutragen. Das ist der Club nun seinem Lokalpatriotismus schuldig. Ab sofort hat er z.B. als überzeugter Bremer Ansprüche auf Siege von Werder Bremen. Der Erfolg seines Heimatvereins ist dann ein bißchen wie sein eigener. Diesen Siegen entnimmt er eine Art ideeller Gratisentlohnung, die ihn für die Wechselfälle des Lebens entschädigt, die ihm seine Heimatstadt ansonsten bietet. Auch Stolz stellt sich ein, wenn "sein Verein" mit Siegen Ehre für die Heimatstadt einlegt, der er angehört - ebenso wie 500 000 andere Mitbürger, unter denen sich bekanntlich alle wiederfinden, die ihm in dieser seiner Heimat ansonsten das Leben schwer machen.

Die Fanatiker unter den Fans machen sich nun von den Siegen ihres Vereins gar nicht erst abhängig. Der Genuß des Erfolgs "ihrer Sache" hat sich einzustellen, erst recht, wenn der Verein einfach nicht siegt. Wenn sich dieses Erfolgserlebnis nicht auf dem Rasen einstellen will, auf das er meint als Bremer, Münchner oder Dortmunder eine Art Anrecht zu haben, dann ist er sauer, selbst wenn der Gegner ein "Klassespiel" hingelegt hat. Und dann finden sich schnell Fans, die den Erfolg des Vereins auf dem Platz nicht mehr nur von der Tribüne aus mit Anfeuerungsrufen befördern wollen, sondern ihn als ihre Sache begreifen und selbst in die Hand nehmen, wo sie doch ein Recht auf den Erfolg ihres Vereins haben. Das ist die Geburtsstunde des Hooligans: Dann sind die Fans des Konkurrenzvereins dran oder beim Auswärtsspiel schon mal die halbe Innenstadt. Ihre Randale ist dann bereits ihr Sieg, den sie nun ganz getrennt vom Rasenereignis, aber immer noch dem Verein verbunden, genießen. Und auch für ihre Randale gibt es Vorbilder, denn so wie sie die gegnerischen Fans jagen, so werden sie von den Ordnungshütern durch die Stadt gejagt und mißverstehen das auch noch als "Sport".

Das ist die Erklärung des Hooligans. Was daraus folgt, liegt auf dem Tisch. Die Kritik des Hooligans ist ohne die Kritik des - lokalen - Patriotismus, den er mit dem ordentlichen Fan teilt 11, mitsamt seinen politischen und pädagogischen Agenturen, nicht zu haben. Wer den Hooligan mit polizeilichen Mitteln und Fan-Projekten ruhig stellen will, der will ihm nur die Kalkulation aufmachen, daß er sich mehr Schaden als Vergnügen einhandelt. Weder ist damit dieses elende Bedürfnis, sich in fremden Siegen zu sonnen und sein eigenes Leben damit zu bekränzen, noch der praktische Standpunkt angegriffen, daß mit dem Spiel des Vereins die Ehre der Stadt oder gar der ganzen Region auf dem Spiel steht. Und schon gar nicht ist das politische Interesse kritisiert, das beide Fehler für sich brauchen kann und deswegen entsprechend anstachelt - siehe dazu die letzte Fußballweltmeisterschaft.12

c. Schülergewalt: Coole Typen und der Kult des Selbstbewußtseins13

Zuletzt jene Abteilung von "Jugendgewalt", die scheinbar grundlos ist. In und außerhalb der Schule schlagen Jugendliche andere zusammen, quälen sie, haben Vergnügen daran und hören sogar manchmal nicht einmal dann auf, wenn das Opfer erkennbare Schmerzen leidet. Die Verprügelten haben ihnen dabei "nichts getan", wie es so heißt - als ob das schon die Rechtfertigung für das Schlägern wäre. Das tut aber nichts zur Sache, dann die Schläger finden sich "echt cool", wenn sie irgend jemanden verwamsen und geben auf Befragen zu Protokoll, daß sie sich dabei so richtig mächtig und respektiert fühlen. ("Ich wollte auch 'mal mächtig sein!"14)

Was sie dabei zur Anwendung bringen, das haben sie von den Erwachsenen zu Hause und in der Schule, im Fernsehen und auf der Straße gelernt. Jedermann, erfahren sie, hat hierzulande das Recht auf Erfolg und Anerkennung. Und überall kommt es dabei nur darauf an, sich gegen andere durchzusetzen. Überall gilt man nur etwas, wenn man sich in der Konkurrenz behauptet und dadurch andere als Verlierer hinter sich läßt. Diese, die Verlierer, sind dann die Nieten und haben selbst schuld an ihrer Niederlage, weil es ihnen an Persönlichkeitsmerkmalen wie Durchsetzungsfähigkeit und Ausstrahlung fehlt. So lernen sie es in der Familie und so bringt es ihnen die Schule bei, die ständig - kontrafaktisch - behauptet, ihre schlechten Noten lägen an ihrer Faulheit.15 Ganz besonders wichtig auf dem Weg zum Erfolg soll ein ordentliches Selbstbewußtsein bzw. Selbstwertgefühl sein, das andere dann verschüchtert bewundern, wenn man es nur ordentlich zur Schau trägt. Folglich hat man sich beizeiten als Person selbstbewußt und respekterheischend auszustaffieren und aufzuführen.

Und wenn nun das Leben in der Schule oder im Beruf diesen Ansprüchen auf Erfolg und Anerkennung so gar nicht entsprechen will, wenn sogar umgekehrt die Kids merken, daß in Schule, Familie und Lehre ihrer erlernten Einbildung, das Leben sei eine einzige Gelegenheit für coole Siegertypen, wie sie es sind, gar nicht oder nicht hinreichend oder nicht auf ihrem Felde Rechnung getragen wird, dann kann es schon passieren, daß sie die Einlösung des allseits verkündeten Rechts auf Erfolg selbst in die Hand nehmen. Dies machen sie ganz getrennt von den Konkurrenzveranstaltungen, die sie in der Schule und auf dem Markt vorfinden. Niete will man nicht sein. Folglich verschafft man sich zur Pflege seines Selbstbewußtseins seine eigenen Erfolgserlebnisse.

Das beginnt in der Regel ganz "harmlos" mit der gewöhnlichen Angeberei, also damit, daß die Kids sich mit erfundenen oder wirklich zugelegten Eigenschaften, Erfolgen oder Attributen brüsten, nur um als "besser", "schöner", "reicher", "stärker", "erfolgreicher" dazustehen. Der Punk ist eine Spezies davon: Dem kommt es darauf, sich als besondere Individualität vom Rest der Menschheit ausgerechnet dadurch abzuheben, daß er sich auffällige äußerliche Attribute wie grün gefärbte Haare oder die Verunstaltung des Gesichts mit Eisenwaren zulegt und auf Bürgerschreck macht. Diese peinlichen Veranstaltungen - sie erschrecken inzwischen längst keinen Bürger mehr, sondern sind als Mode adaptiert geworden -, in denen Jugendliche ihre ganze Identität nur über eine äußerliche Abweichung von der Norm definieren, setzen sich fort im rohen sexistischen Sprachgebrauch, in denen Kinder mit Obszönitäten um sich werfen, weil sie wissen, daß dies ungehörig, weil "schweinisch" ist. Und das endet darin, daß sie ihren Wunsch nach Anerkennung nicht mehr davon abhängig machen, daß jemand ihre Albernheiten auch noch "geil" findet. Sie erzwingen vielmehr die Anerkennung und genießen sich selbst als Siegertypen, indem sie andere zu Verlierern machen - egal wen. Und immer sind auch wieder die Mädchen auf ihre Weise dabei: Entweder aktiv mit der Angabe, mit diesem und jenem bereits etwas "gehabt" zu haben, mit der Klamottenkonkurrenz, mit der schmachtenden Anhimmelung jener "coolen" Typen, die sich "nichts gefallen lassen". Oder sie schlägern gleich selbst mit, weil ihnen die männliche Variante dieses Selbstwertkultes gefällt. Dafür organisieren Kids dann ihre eigenen Konkurrenz- "Spielchen", machen sich eigene Regeln, bei denen nur sie gewinnen - wenigstens solange sie nicht an diejenigen geraten, die die gesellschaftlich durchgesetzten Regeln verkörpern.16 Und da die Kids über keine der sonst in der Gesellschaft üblichen Mittel verfügen, sich Überlegenheit zu sichern, weder gute Schulnoten haben noch über Geld oder Macht verfügen, setzen sie auch schon einmal das einzige Mittel ein, das sie sonst haben ein, ihre Natur, ihre Körperkraft. Das kennen sie aus dem Wirtshaus, wo die Vergleichereien der Erwachsenen - Saufen, "Weiber", "Typen", Autos usw. - schnell als Ehrfragen behandelt werden und bei den Männern ziemlich regelmäßig in eine Schlägerei münden.

Das ist die Erklärung dieser angeblich grundlosen Spezies von Schülergewalt. Auch hier liegt auf dem Tisch, was daraus folgt. Zu kritisieren ist die falsche Erklärung der Siege und Niederlagen, die diese Gesellschaft ihren Menschen bereitet. Es ist die Lüge anzugreifen, daß es an der jeweiligen Person hängt, was aus ihr wird, und daß man sich nur als cooler und selbstbewußter Erfolgstyp zu präsentieren hat, wenn man zu den Siegern gehören will. Wer allerdings nur diese Jugendlichen, die mit dem Besitz von Waffen angeben, sie gelegentlich einsetzen und schon mal den Lehrer bedrohen, für das Problem hält, aber an den angeberischen Ritualen der Erwachsenen, an den Selbstdarstellungskunststücken von Erfolgsmenschen und an den brutalen Inszenierungen von Überlegenheit der Eltern - sei es in der Kneipe, in der Familie oder im Beruf - nichts auszusetzen hat, nur weil nicht gleich Blut fließt, hat auch von den Kids nichts begriffen. Will man an den Kern der Sache heran, dann helfen keine meditativen Ruhe-Therapien oder Toberäume, weder kooperatives Lernen noch das Kontakttelefon. Dann geht es nicht ab ohne einen Frontalangriff auf das durchgesetzte Selbstbewußtsein des bürgerlichen Subjekts, das sich selbst fälschlicherweise zur wichtigsten Ursache seines eigenen Erfolgs erklärt.

3. Schluß

Zwischen all diesen hier erklärten Formen gibt es Übergänge und Überschneidungen, die ich nicht erläutern will. Sie erklären sich aus einer Gemeinsamkeit zwischen ihnen, die jedoch nicht in der Anwendung von Gewalt liegt. Das hätten, wie gesagt, die Hooligans, Skins usw. auch mit jenen Staatsbediensteten gemein, die sie bestrafen, festsetzen und beaufsichtigen. Sie alle erweisen sich vielmehr als selbstbewußte "Produkte" einer Gesellschaft, die ihren Bürgern nicht nur so manches Päckchen zum Tragen aufbürdet, sondern auch für ein Arsenal an Fehldeutungen sorgt, mittels derer der Mensch seinen geistigen und praktischen Frieden mit seiner Heimat machen kann. Das trifft die große Mehrheit dieser Gesellschaft. In ihr gibt es aber immer wieder welche, Frauen und Männer, Alte und Junge - letztere werden der Abteilung "Jugendgewalt" zugeschlagen - , die es nicht dabei belassen, nur über Ausländer zu mosern, dem Heimatverein nur zuzujubeln oder mit der neuen Lederjacke bei Schulkameraden nur um Anerkennung zu werben. Sie betrachten das ausländerfreie Deutschland, den Erfolg ihres Vereins und die Hofierung ihrer Person als ihr Recht, das ihnen hierzulande auf jeden Fall als Deutscher, als Münchner oder überhaupt als Person zusteht. Dieser Rechtsstandpunkt ist es, der sie praktisch und nicht selten gewalttätig werden läßt: Dann nehmen sie die Befreiung Deutschland von "Kanakern", den Sieg ihres Heimatvereins oder die Anerkennung durch andere in die eigenen Hände und stellen sie her. Recht, das scheinen sie zu ahnen, ist mehr als Interesse. Es ist das unbedingt gültige Interesse, das deswegen auch die Gewalt für sich einsetzen darf. Das kennen sie vom einzig gültigen Recht, mit dem der Staat seine Belange durchsetzt. Doch indem sie sich als Privatsubjekte nun dasselbe herausnehmen, geraten sie in Gegensatz zu ihrem Lehrmeister, dem Staat, der sich als einziger über die Unverletzlichkeit von Person und Eigentum hinwegzusetzen darf, produzieren dabei jede Menge Ordnungsstörungen, werden verurteilt und eingesperrt. Dabei ist ihr allseits auf Empörung stoßendes Tun weder ein Aufstand gegen diese Gesellschaft noch ein Zeichen des Versagens dieser Gesellschaft. Diese Kinder und Jugendlichen sind vielmehr gelehrige Schüler von lauter Prinzipien, die zum notwendigen Regelwerk dieser Gesellschaft gehören, die die demokratische Marktwirtschaft braucht, nach denen diese Gesellschaft also funktioniert; und zwar so erfolgreich funktioniert, daß sie es sich heute leistet, der Jugend die Alternative aufzumachen, sich entweder unterzuordnen oder in der Gesellschaft von ihr - und damit von allen in ihr erlaubten Formen der Unterhaltssicherung - ausgeschlossen zu werden. Und weit und breit ist keine Kraft zu sehen, die sie daran hindert. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter mögen das anders sehen. Doch geben sie mit ihrem monotonen Ruf nach "Hilfen für die Praxis" nur eines zu verstehen: Daß sie nämlich allen Grund hätten, sich die Frage vorzulegen, ob nicht die Unzufriedenheit über ihre Praxis weniger auf einen Mangel an Rezepten als vielmehr auf Defizite in der Beurteilung der Lage verweist, mit deren sozialstaatlicher Verwaltung sie beauftragt sind.




1 J.Mansel, Außen- und innengerichtete Formen der Problemverarbeitung Jugendlicher, o.O.,o.J.(für die Veranstaltung vom Autor verschickter Text)

2 A.a.O., S.1
3 Deswegen ist Gewalt auch keine "semantisch unbestimmte" Sache, wie Mansel/Hurrelmann sagen. Was allein "unbestimmt" ist, das ist die von der jeweiligen Herrschaft und der Ausgestaltung ihres Gewaltmonopols abhängige Entscheidung, was zur legalen und was zur illegalen Gewalt erklärt wird. Aber weil das staatliche Gewaltmonopol hierzulande dies klar festgelegt hat, hat J.Mansel auch überhaupt keine Schwierigkeiten, diese "semantische" Hürde zu überwinden und Hooligans, Skins etc. getreu staatlich vorgegebener Kriterien als "Gewalttäter" zu identifizieren, die staatlich legitimierten Gewalttäter dagegen von seiner Untersuchung auszunehmen. Von wegen "semantisch uneindeutige Gewalt"!


4 Übrigens wendet die Wissenschaft auch diesen Befund, die Gewalttäter sind Opfer ihrer Anlagen oder Umstände, nicht auf alle Gewalttäter an: Schon wieder gilt das weder für Polizeibeamte noch für Soldaten, weder für die GSG 9 noch für Abschiebungsvollstrecker. Da wird nicht gefragt, ob in der Kindheit irgend etwas schief gelaufen oder irgendeine Sozialisationsinstanz nicht funktioniert hat. Da gilt als selbstverständlich, daß sie für ihr Tun Gründe besitzen, die sie kennen und bewußt exekutieren. Warum? Weil ihre Gründe gesellschaftlich anerkannt und gültige sind, sind sie welche und kein Mensch kommt auf die Idee, den Chef einer Polizeibehörde oder den Verteidigungsminister mit einem Sandsack in einer Keller einzusperren, damit sie dort ihre Aggressivität abreagieren.

5 J.Mansel, S.1
6 Mansel/Hurrelmann, Gewalt in der Schule, in: J.Spreiter, Waffenstillstand im Klassenzimmer, Weinheim, Basel 1993, S.21
7 Das ist, weiß J.Mansel, ein rein "kognitivistischer Ansatz". Natürlich, was denn sonst, schließlich werden erzogene Menschen und ihr Handeln und nicht Regenwürmer, Kaninchen oder Sumpfohreulen.
8 J.Mansel, S.25
9 Vgl. F.Huisken, Jugendgewalt - Der Kult des Selbstbewußtseins und seine unerwünschten Früchtchen, Hamburg 1996, S.121
10 Die Behauptung, die "Jugendgewalt" sei Jungengewalt, geht so gesehen an der Sache vorbei. Wer sich für das rohe Treiben von Jugendlichen erst dann interessiert, wenn wirklich Blut fließt, der mag das so sehen. Der muß sich allerdings vorhalten lassen, daß ihn das falsche Bewußtsein hiesiger Bürger - der jungen wie der alten, der männlichen wie der weiblichen - erst dann stört, wenn es sich "auffällig" gegen die herrschende Ordnung richtet; und sonst eben nicht! Der trennt die brutale Tat von dem geistigen Verhau im Kopf, ohne den dieses "kriminelle" Treiben nicht zu erklären ist; nur weil es ihm/ihr auf eine Ehrenrettung der "die Frau" bzw. des "weiblichen Geschlechts" ankommt. Dabei gilt für Skins, Hooligans, Straßenkinder und brutale Schüler dasselbe. Die falschen Deutungen machen vor weiblichen Köpfen nicht Halt. Und auch zur Tat schreiten weibliche Jugendliche. Oder fällt das etwa nicht unters Tun, wenn deutsche Schülerinnen Türkinnen das Kopftuch wegreißen oder ihre männlichen Artgenossen anfeuern, wenn die sich mit "Kanaken" anlegen? .
11 Während der Fußball-WM hat die deutsche Presse sorgfältig zwischen den "guten" und den "bösen" deutschen Fans sortiert. Die "guten" haben "nur" gebrüllt "Deutschland vor...", weil Deutschland natürlich Weltmeister werden mußte. Die "bösen" wollten deutsche Überlegenheit auf der Straße zeigen: Deutsche Fans sind jedem britischen oder französischen überlegen! Und das haben sie dann auch gemacht.
12 Vgl. dazu: Fußballweltmeisterschaft: Unschuldiges Sportereignis durch Gewalttätigkeiten überschattet, in: GegenStandpunkt, 3/98, S.40
13 Mein Buch zur "Jugendgewalt" bezieht sich in erster Linie auf diese Jugendlichen.
14 So ein Jugendlicher, der andere beispiellos gequält hat, auf Befragen durch einen Jugendrichter in Bremen.
15 Dabei gibt es die "Nieten" in der Schule nur, weil es der Schulauftrag ist, die Mehrheit des Nachwuchses so zu beurteilen, daß ihnen den Zugang zum höheren Schulwesen versagt wird. (Vgl. dazu: F.Huisken, Erziehung im Kapitalismus, Hamburg 1998)
16 Wie es in der Gesellschaft wirklich zugeht, erfahren sie dann sehr schnell. Daß die Welt nicht ihren Regeln folgt, daß ihre ganze "coolness" eine praktizierte Form der Verrückung von Wirklichkeit ist und sie umgekehrt die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft einzuhalten haben, die sie mehrheitlich nur als Verlierer vorgesehen hat, das muß den Kids beigebracht werden. Das bedeutet gerade nicht, es dabei zu belassen, ihnen eine Schadenskalkulation anzutragen - "Wenn ihr so weiter macht, landet ihr im Jugendknast!" -, sondern das heißt, ihre Maßstäbe anzugreifen und ihre Einbildung über die bürgerliche Welt zu kritisieren. Allein das ist die aus meiner Analyse folgende "Praxis". Daß sie häufig gerade am Willen der Kids scheitert, die davon nichts hören wollen, ist richtig, taugt aber als Einwand wenig. Denn wenn sie von sich aus begierig wären zu erfahren, wie diese Gesellschaft "Chancen" verteilt, würden sie sich nicht so aufführen.
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