Freerk Huisken, Uni Bremen (für Junge Welt, 14.7.03)

Die Schüsse von Coburg:

"Ein unauffälliger Schüler mit ganz normalen Mitschülern, in einer ganz normalen Schule in einer völlig normalen deutschen Kleinstadt."

So oder ähnlich leitete Anne Will von der ARD in den Tagesthemen am 2.7. den Bericht über die "Schüsse von Coburg" ein. Allenthalben wurde nur deutsche Normalität entdeckt: Der Florian K. sei ihnen eigentlich nie aufgefallen, teilten die normalen Mitschüler der eingefallenen Presse mit. In der Realschule II in Coburg hätte es nie Anzeichen dafür gegeben, dass sich so etwas ereignen könnte, wussten die betroffenen, gleichfalls völlig normalen Lehrer. Und der "Oberfrankenminister" Bayerns, W.Schnappauf, hielt es für eine "bedrückende Erkenntnis, dass sich derartige Dramen nicht nur in den USA ereignen, sondern auch in kleinen deutschen (sogar bayrischen) Städten wie Freising und Coburg".

Doch was heißt das eigentlich? Soll uns - mit verhalten rassistischem Unterton - mitgeteilt werden: Den US-Amerikanern, denen der Colt ohnehin so locker sitzt, denen trauen wir so etwas natürlich zu. Die Normalität jenseits des großen Teiches ist bekanntlich wahnsinnig gewaltträchtig - was wir Deutschen in den Filmen von Michael Moore immer wieder genüsslich beglotzen können. Aber bei uns in Deutschland, da ist doch die Normalität ganz anders, zwar nicht alles Gold, aber auf jeden Fall friedlicher - eben normal in des Wortes wahrer Bedeutung.

Oder heißt die Botschaft: Die deutsche Idylle ist trügerisch. Die Normalität ist bloßer Schein, dahinter verbergen sich Abgründe.

Und die Lehrer? Was vermelden sie eigentlich, wenn sie "völlig überrascht", wie vor den Kopf gestoßen", "ohne irgendwelche Anzeichen" bemerkt zu haben nun öffentlich ihre Gewissensqualen zur Schau stellen? Wollen sie sagen: Wenn wir nichts bemerkt haben, dann konnte man auch nichts bemerken; dann hat der Florian K. alles, was mit ihm vorging, versteckt, in sich hineingefressen, kein Vertrauen zu uns gehabt. Und: Wie hätten wir denn da vorher helfend eingreifen können? Oder: Oh, hätte er sich uns doch nur anvertraut! Vielleicht auch: Haben wir wirklich alles getan, um hinter der normalen Fassade den wahren Florian K. mit seinen Problemen ausfindig zu machen?

Schließlich die Mitschüler, die vorher auch nichts Außergewöhnliches am Schützen entdeckt haben wollten. Was teilen die mit? Etwa, dass die Drohung, den Lehrer X könnt ich erwürgen, immer wieder fällt, also bei Schülern ganz normal ist, aber doch jeder von uns weiß, dass man das nicht wirklich macht! Folglich: Wie konnten wir denn wissen, dass der Florian ernst macht. Oder vielleicht: Hätten wir das gewusst, dann hätten wir ihn in der Bio-Stunde vor der Tat, als er mit den Knarren angegeben hat, doch nicht damit gehänselt, dass er sich sowieso nicht trauen würde zu schießen ....

Doch nichts davon trifft zu. Nichts als Heuchelei, falsche Betroffenheit und Entschuldigungen

.... zeichnen diese Verweise auf die Normalität aus, die nun angeblich so brutal gestört worden sei. Denn eines steht fest: Die Ursachen für die Tat müssen notwendigerweise in dieser Normalität liegen; weder sind sie "vom Himmel gefallen" noch das Produkt einer spontanen Eingebung..

So gehört es denn offensichtlich für die Schüler hierzulande zur Normalität, dass sie Kritik an Schule und Lehrerschaft mit Rache verwechseln; dass sie es Lehrern persönlich anlasten, was diese als Personifikationen des Schulzwecks mit ihnen so alles anstellen. Auch die bayrische Kultusministerin, M.Hohlmeier, weiß offensichtlich sehr genau, welches Ausmaß an Frustration Schule Schülern bereiten kann, wenn sie bei ihrer Motivsuche feststellt, dass "das Vorrücken in die nächste Jahrgangsstufe nicht gefährdet gewesen sei". Es ist ihr also geläufig, dass Schulverweise, Ausschluss vom Abitur oder Sitzenbleiben für Schüler ein Grund sein kann, sich an Lehrern für die Zerstörung von Lebensperspektiven oder für Anschläge auf ihr Selbstbewusstsein zu rächen. Wahrscheinlich ist ihr Beschluss, auch in der Primarstufe wieder Ziffernnoten einzuführen, als eine Art frühzeitiger Einübung in "Frustrationstoleranz" zu werten.

Doch noch ein weiteres Wort zu den Mitschülern. Ihnen ist an Florian K. nichts aufgefallen, weil ihnen die ärgerliche Tour sehr geläufig ist und als völlig normal gilt, sich mit einschlägigen Accessoires als "coole Typen" auszustaffieren, sich also auch mit Waffen wichtig zu tun. Und sie begreifen es deswegen auch als Gipfel eigener "coolness", den Angeber damit zu blamieren, dass er sich nicht trauen würde, auf Lehrer zu schießen. Sie geben sich als Anhänger des Anerkennungskultes zu erkennen, die vor sich selbst nur als soviel gelten, wie es ihnen gelingt, anderen imponieren. Dass die Anforderungen an erfolgreiches Imponiergehabe wachsen, liegt dabei in Anerkennungslogik selbst begründet.

Doch soll man den Schülern auch nicht unrecht tun: Sie betreiben zwar diesen Kult sehr bewußt, erweisen sich damit aber in mehrfacher Hinsicht auch als gelehrige Schüler jener Erziehungseinrichtungen, deren Personal immer mal wieder in ihre Schusslinie gerät. Denn es weiß jeder Pädagoge: Anerkennung braucht der Mensch und besonders derjenige, dem die Schule so oder so übel mitspielt. Die braucht er dringend, damit er sich nicht z.B. die Frage stellt, warum es eigentlich sein muss, dass die Schule die Mehrheit der Schüler systematisch von weiterführender Bildung, damit vom Studium und damit von weniger unerfreulichen Berufskarrieren ausschließt. Aber noch in anderer Hinsicht lehrt die Normalität dieser Gesellschaft den Schüler so einiges: Sie lehrt ihn, dass aus ihm nichts wird, wenn er nicht besser, risikobereiter, leistungsfähiger, stärker usw. als die anderen ist; dass es folglich gar nicht anders geht, als dass er sich in der Konkurrenz daran beteiligt, andere zu Verlierern zu machen - was die natürlich mit derselben Tour zu verhindern trachten. Und dieses Hauen und Stechen - es setzt sich nicht selten in der Privatsphäre aufs Unerquicklichste fort -, wird tatsächlich gewalttätig, wenn Schüler die Lehre beherzigen, dass Gewalt hierzulande durchaus ein legitimes und erfolgreiches Mittel zur Durchsetzung lauter roher Anliegen ist - natürlich nur in den Händen der Staatsgewalt, die sich dazu bekanntlich selbst legitimiert. Doch das muss sie nicht abschrecken, denn es ist nur allzu bekannt, dass die Legitimation der Gewalt allein an der Überlegenheit der Gewaltmittel liegt.

Ob Frau Hohlmeier wohl wusste, was sie da sagt, als sie in Coburg alle Coburger aufforderte, schnell wieder "zur Normalität zurückzukehren"?