Freerk Huisken , 03.04

 

 

“Ich wollte auch mal mächtig sein!”

“Es ist ein geiles Gefühl, über andere Macht auszuüben!”

(So zwei jugendliche “Straftäter” vor dem Jugendrichter)

 

10 Thesen über „coole Kids“

 

 

1. Dieses Bedürfnis, dieses Motiv, über andere Macht ausüben zu wollen, ist gemein und absurd. Die Gemeinheit hat es mit anderen, leider allzu sehr zur Normalität gerechneten Formen der Machtausübung von Erwachsenen gemein: Per Gewaltausübung werden physische Verletzungen bzw. psychische Schädigung hergestellt und so der Wille von Schwächeren gebrochen. Die Absurdität dieses Bedürfnisses von Jugendlichen besteht darin, dass sie Macht gar nicht als Mittel zur rücksichtslosen Durchsetzung entsprechender materieller Anliegen haben wollen – wie dies die staatliche Machtausübung kennzeichnet. Sie wollen ein „geiles Gefühl“ von Machtausübung genießen. Machtausübung soll ihnen per se Genuss bereiten. Da wollen sich Jugendliche daran erfreuen, dass sie in der Lage sind, anderen Schmerzen und seelischen Schaden zuzufügen.

 

2. So ein Bedürfnis nach Machtausübung, wie es die Kids treibt, hat also allein sich selbst zum Inhalt. Es verrät sich damit als zwecklose Imitation jener Macht, der Jugendliche täglich in Familie, Schule und auf der Straße ausgesetzt sind. Sie wollen vermittels der Machtausübung gar nicht an der sie umgebenden Welt materiell etwas zu ihren Gunsten ändern, sondern allein selbst etwas ausüben, wovon sie als Jugendliche ausgeschlossen sind: Macht. Es bleibt bei diesem absurden Genuss, mit dem sie eine seelische Befindlichkeit – nenne man sie Frust des Verlierers oder Ohnmachtsgefühl  -  korrigieren wollen. Sie halten für sich plötzlich positiv an dem Mittel fest, unter dem sie sonst leiden, weil befugte Inhaber von (Staats-)Macht so ihre Zwecke rücksichtslos gegen andersgeartete Interesse von ihnen als den Heranwachsenden durchsetzen.

 

Wenn etwa amtierende Ordnungshüter, Erzieher oder Väter mit dem Einsatz ihrer Machtbefugnis Kinder und Jugendliche “zur Ordnung” bringen, ihnen die Unterwerfung unter Schuldisziplin aufnötigen oder sie für Regelverstöße abstrafen, dann geht es ihnen – in aller Regel - nicht um den Genuß von Machtausübung, sondern darum, dass Kinder und Jugendlichen sich dem Schulzweck, der Straßenverkehrsordnung oder den Regeln des Familienlebens, also den Zwecken widerspruchslos fügen, die das gesellschaftliche Leben hierzulande bestimmen. Es legitimiert nun Machtausübung keineswegs, wenn sie zweckmäßig eingesetzt wird, sondern verweist allein darauf, dass hierzulande mit Macht gültig gemachte Ziele sich an Einwänden und Widersprüchen nicht relativieren – so vernünftig sie auch sein mögen. 

 

3. Wenn Kinder und Jugendliche die erfahrene Machtausübung der Erwachsenen imitieren, ziehen sie aus der von ihnen selbst kritisierten Ohnmacht einen absurden (Fehl-)Schluss: Sie entwickeln dieses rohe Bedürfnis nach Machtausübung, gerade weil sie keine Macht besitzen. Sie wollen “auch mal mächtig sein”, obwohl sie die Macht verabscheuen, der sie unterworfen sind. Ausgerechnet das, was sie an den zur (Erziehungs-)Gewalt gegen Heranwachsende befugten Erwachsenen stört, das wollen sie selbst praktizieren, das soll ihnen gar Genuss bereiten..

 

4. Um einen Fehlschluss handelt es sich deswegen, weil durch diese Machtimitation, die notwendig immer physisch Schwächere als Opfer braucht, keines der Interessen von Jugendlichen bedient wird, das an Lehrer-, Eltern- oder Polizeimacht scheitert. Weder gibt es bessere Zensuren noch mehr Taschengeld, weder das kostenlose Nahverkehrsticket noch das selbstverwaltete Jugendheim, wenn Jugendliche jüngere Mitschüler verprügeln. Sie nehmen damit nur ihren sachlich begründeten – nicht: berechtigten - Ärger über die Wirkung der Verbote und Strafen selbst nicht mehr ernst: Wenn Lehrer mit Strafarbeiten den Kindern den Nachmittag versauen oder Väter wegen einer Fünf in Mathe das Taschengeld sperren, dann stören sich diese gewaltgeilen Jugendlichen plötzlich weniger am reduzierten Taschengeld oder am vergeigten Nachmittag als allein daran, dass Erwachsene ihnen gegenüber zur Machtausübung befugt sind und diese Befugnis einsetzen. Ihr Ärger über das untersagte bestimmte Interesse verwandelt sich in den Wunsch, anderen gegenüber “auch mal” wie ein zur Machtausübung Befugter aufzutreten.

 

5. Dabei wissen sie nur zu genau, dass ihre Rohheiten – im Unterschied zu denen von zur Macht- und Gewaltausübung legitimierten Erwachsenen – immer unerlaubt sind, folglich Strafen nach sich ziehen. Am Ende stehen sie dann doppelt dumm da: Neben der Erfahrung, dass sich jeder ihrer Wünsche und jedes ihrer Interessen immer an den gültigen, von Erwachsenen per Macht exekutierten Zwecken zu relativieren hat und nicht selten ganz verboten werden, bringt sie obendrein der absurde Wunsch, selbst einmal Macht auszuüben, erst recht in Schwierigkeiten. Nicht selten führen die zum Jugendrichter, der die gültigen Kräfte- sprich: Machtverhältnisse mit Verhängung einer Jugendstrafe dann wieder herstellt. Der darf nämlich auch, was Kindern und Jugendlichen per Strafe untersagt ist: Gewalt ausüben  - die dritte, die judikative Gewalt nämlich.

 

6. Dem können sich Kinder und Jugendliche auch dadurch nicht entziehen, dass sie ihr rohes Treiben dort veranstalten, wo sie sich unter sich wähnen: auf dem Schulhof, nach oder vor der Schule auf der Straße, auf dem Spielplatz, usw. Der Versuch, dort ganz auf Gewalt von Jugendlichen gegründete separate “Machtverhältnisse” zu etablieren, scheitert früher oder später daran, dass Kinder und Jugendliche eben nie “unter sich” sind. Sie stehen immer unter Aufsicht – darin den meisten Erwachsenen gar nicht unähnlich -, auch wenn die Aufsichtspersonen physisch nicht anwesend sind. So sind Kinder und Jugendliche nämlich gesetzlich definiert: Es handelt sich bei Kindheit und Jugend nicht um unschuldige Altersangaben, sondern um einen Katalog all dessen, was so ein Menschlein noch nicht darf.

 

Wenn es als zusätzlicher Skandal verbucht wird, dass es einmal wochenlang – wie jüngst mehrfach gemeldet - unentdeckt bleibt, dass Jugendliche einen Mitschüler gequält haben, dann ist dem nur die Empörung darüber zu entnehmen, dass die als ziemlich totale gedachte  Aufsicht versagt hat. Gekleidet wird diese Kritik nicht selten in die entsetzte Frage, warum denn der gequälte Schüler sich nicht vertrauensvoll an Erzieher oder Eltern gewendet habe. So ist das eben mit der Aufsicht über die Heranwachsenden: Am liebsten ist es den Aufsichtspersonen, wenn sie von den der Aufsicht Unterstellten selbst eingeklagt wird. 

 

7. Gerade deswegen gilt auch Gewalt unter Kindern und Jugendlichen als so besonders skandalös: Beklagt wird dabei nicht, dass es noch nicht gelungen ist, ihnen die Gewaltausübung ein für alle mal auszutreiben. Darum geht es auch gar nicht – es braucht schon immer wieder Nachwuchs für legitimierte Gewalttäter mit oder ohne Uniform. Vielmehr wird geargwöhnt, dass Kinder noch nicht zu unterscheiden und zu akzeptieren gelernt haben, wer wann und warum hierzulande zur Gewaltausübung über Mitmenschen befugt ist. Das ist nämlich ein Hauptwitz von Erziehung hierzulande: Als reif und mündig wird der Heranwachsende aus der Pflichterziehung entlassen, wenn ihm zugetraut wird, dass er zum einen alles, was er auch Erwachsener nicht darf, aus freien Stücken, aus Einsicht in angebliche Notwendigkeiten unterlässt, und dass er zum anderen gelernt hat, sich mit jedem nicht verwirklichten Interesse abzufinden, ohne dabei “auffällig” zu werden. Um das zu begreifen, muss der Nachwuchs hierzulande ca. ein Viertel seines Lebens in Unmündigkeit gehalten werden. Offensichtlich bereitet es ziemliche Schwierigkeiten, dem Nachwuchs die gewünschte “Vernunft” beizubringen. Oder anders gesagt: Offensichtlich hat der Erwachsene in dieser Gesellschaft ziemlich viel Dinge zu unterlassen, die sich überhaupt nicht von selbst verbieten; und ziemlich viele Ratschläge zu beherzigen, die ihm allein nicht im Traum eingefallen wären. 

 

8. Ziemlich paradox ist es nun, dass die öffentliche Erziehung die “Jugendgewalt” zwar einerseits schwer verurteilt, aber andererseits sehr einverstanden ist mit der Funktion, die diese Rohheiten für den Seelenhaushalt der kleinen Täter haben. Es wird nämlich der Genuss der Ausübung der “kleinen Macht” nicht selten konserviert als Selbstbefund über die Vortrefflichkeit der eigenen Person: Da gilt es dem Jugendlichen dann glatt als Auszeichnung vor und gegenüber anderen, z.B. Kinder zu quälen, Mitschüler zu erpressen, von ihnen Jacken zu zocken etc. Das taugt dann dazu, das Selbstbewusstsein zu heben – eine psychologische Einrichtung, die gerechter Weise pädagogisch hoch im Kurs steht und die es gar bis zu einem Erziehungsziel gebracht hat.

 

9. “Gerecht” ist dieses Ziel, da ein Selbstbewusstsein alle diejenigen brauchen – es wird die gute Mehrheit der Zeitgenossen sein -, die gegen alle schlechten Erfahrungen, die das alltägliche Leben in Schule, Beruf, Familie und Freizeit für sie bereit hält, nicht von dem Urteil lassen wollen, dass sie dennoch ziemlich gut dastehen und dass sie als Personen letztlich unverwüstliche Siegertypen sind. Je ärger “das Leben” den Menschen mitspielt, desto brauchbarer erweist sich so ein Selbstbewusstsein; trennt es doch erstens den Befund über die eigene Person vollständig von der Lage ab, in die es sie verschlagen hat, und reicht ihnen zweitens die Berufung auf das Selbstbewusstsein glatt zum Versuch, die ärgerlichen Umstände, in denen sie sich wirklich befinden, zu kompensieren.

 

10. Hoch im Kurs steht das Selbstbewusstsein also vor allem, weil so ein psychologischer Selbstbetrug nichts von gesellschaftlichen Ursachen wissen will, die den Menschen ärgern und frustrieren. Warum der Jugendliche als chronischer Schulverlierer auf der Hauptschule landet, warum der Ausländer herumgeschubst wird, warum der Schüler gehänselt wird, warum der Lehrherren den Lehrling schikaniert usw., wird nicht ergründet, sondern hingenommen. Denn all dies gilt als nur noch halb so ärgerlich, wenn man zum Ausgleich für solchen Frust mal schwächere Jugendliche quält oder eine Telefonzelle zerlegt. Wem gesellschaftlich jener Erfolg versagt bleibt, den sich der Heranwachsende gewünscht hat, dem muss – darin sind sich Pädagogen heute einige – wenigstens anderweitig, also auf gesellschaftlichen Nebenschauplätzen Anerkennung zuteil werden. Dass ein großer Teil des Nachwuchses zu Schulversagern gemacht wird, Lehrstellen nicht gesichert, ein Arbeitsplatz geradezu ein Luxus und ein Verdienst, der ein einigermaßen erträgliches Leben garantiert, heutzutage mit deutschen Standortkriterien unverträglich ist, all das gilt nicht als der Skandal, den es zu bekämpfen gilt. Vielmehr wird all dies zum Anlass für die Sorge genommen, ob der hiesige Nachwuchs auch so damit fertig wird, dass er weder an sich verzweifelt, noch die eine oder andere unerwünschte – politische oder kriminelle - Karriere einschlägt.

 

11. Wenn also Kinder und Jugendliche mit allen möglichen Rohheiten untereinander und manchmal sogar gegenüber Erwachsenen “auch mal Macht” ausüben wollen, dann geht es ihnen nicht um Veränderung ihrer wirklichen Lage, sondern um ihr Seelenheil. Es geht ihnen allein darum, Selbstbewusstsein zu tanken und Anerkennung durch Opfer bzw. von Zuschauern einzufordern. Sie folgen damit einem pädagogischen Anliegen, allerdings mit Mitteln, an die die Erzieher nicht gedacht haben, die aber – und das ist der Witz: - von Logik dieses Anliegens gedeckt werden: Wo den Knirpsen und –Innen von klein auf beigebracht wird, dass der Mensch zum Durchwursteln Selbstbewusstsein braucht und dabei auf die Anerkennung durch die Umwelt ganz einfach nicht verzichten kann, da ist eben dem ganzen Arsenal von erlaubten und unerlaubten Mitteln dafür ein generelles Placet erteilt. Ja, es wird von den Kids aus dem herbeierzogenen Wissen um verbotenes Tun noch ein extra Kick abgeleitet: Wer sich beim Werben um Anerkennung, wer sich beim Aufbau von Selbstbewusstsein traut, die Grenze zum verbotenen Tun zu überschreiten, der hat – wenigstens bei Kids, die auf demselben dummen Dampfer sind – Sonderrationen von Anerkennung verdient. Wie steigern Kids “selbstbewusst”? Selbstbewusst, cool, mega-cool!